Dies ist kein Kinderbuch.
Hä? Aber es sieht doch so aus!
Stimmt.
Und dennoch ist es aus meiner Sicht völlig ungeeignet für die Zielgruppe der Elfjährigen.
Warum das so ist, erzähle ich euch hier.
Achtung: Diese Rezension enthält massive Spoiler und Zitate aus dem Buch!
Dieses Buch sollte für mich etwas Positives gegen den Corona-Blues sein. Doch dann wurde es ein absoluter Aufreger. Ich habe nur durchgehalten, um euch von diesem angeblichen Kinderbuch erzählen zu können.
Zahlen, Daten, Fakten
Entgegen meines eigentlich möglichen Lesetempos habe ich 7 Tage für 314 Seiten gebraucht, ohne parallel zu lesen. Es ist das erste von zwei Büchern, 1. Auflage 2012, geschrieben von Melanie Welsh und übersetzt von Peter Knecht. Es enthält 3 interne Bücher, 23 Kapitel, ein Vorspiel und ein Nachspiel.
Momente, in denen ich kurz davor stand, das Buch abzubrechen: 17.
Klappentext
Im verschlafenen Städtchen Wellow passiert einfach nichts Aufregendes. Dabei wünscht sich Felicity Gallant sehnlich, einmal ein richtiges Abenteuer zu erleben. Als ein rätselhafter Fremder auftaucht, der ihr ein altes Buch und einen geheimnisvollen Gegenstand überreicht, geht Felicitys Wunsch plötzlich in Erfüllung. Kurz darauf legt die sagenumwobene "Sturmwolke" im Hafen an und es geschehen bedrohliche Dinge! Aber was hat das alles mit Felicity zu tun? Wird es ihr gemeinsam mit ihren Freunden gelingen, die Geheimnisse von Wellow zu ergründen?
Inhalt und Stimmung im Buch
Wenn man den Klappentext anschaut, erwartet man eine Abenteuergeschichte mit Magie und Freundschaft.
Zu Beginn kann man auch noch glauben, genau das zu bekommen. Das Vorspiel machte neugierig. Von falschen Entscheidungen war die Rede, von Reichtümern und von Bedauern. Und dann begann das erste Kapitel, das erst gewisse Solidarität mit Felicity aufbaut, um sie dann als Opfer von familiärer Diskriminierung zu kennzeichnen. Felicitys Mutter sagt zu deren kleinen Schwester Poppy: "Jemanden, de so hübsch und begabt ist wie du, finden sie nicht so leicht ein zweites Mal." Auf deren Vorschlag, auch Felicity solle sich bewerben, entgegnet die Mutter: "Ja, versuchen könntest du es immerhin." (Und ja, das ist auf Seite 17 genauso abgedruckt!)
Die erste richtige Beschreibung unserer Protagonistin finden wir anschließend: "Trotzdem, manchmal fand sie es doch ein bisschen unfair, zu groß für ihr Alter zu sein und noch dazu stämmig und lange braune Haare zu haben, die sich nicht gern von Spangen bändigen ließen." (S. 17)
Klar, diese offenbare Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper könnte für beginnende Teenager mehr oder weniger normal sein. Sie wird allerdings - und das ist das Üble an diesem Buch - fast durchgängig von ihrem Außenfeld bestärkt.
Ihre Schulkameraden schlagen ihr den Rock hoch, kippen ihre Tasche aus und lästern über ihre Figur. Und als sei das nicht schon schlimm genug, erlebt Felicity am Ende des ersten Kapitels auch noch eine Demütigung durch ihre Lehrerin. Ausgewählt, an einem Wettbewerbstag beim Segeln auszuhelfen, kommentiert diese Felicitys Rückversicherung, ob das denn wirklich gehen würde, mit den Worten: "So wie es aussieht, wird der Wind auffrischen; da kann es nicht schaden, ein bisschen zusätzliches Gewicht im Boot zu haben." (S. 24)
Am Ende des ersten Kapitels ist also klar, dass Felicity wirklich niemanden hat, auf den sie sich verlassen kann. Nun könnte man damit rechnen, dass sich aus dieser denkbar ungünstigen Ausgangslage (ähnlich wie bei Harry Potter) mit wundersamer Fügung und Magie etwas machen lässt - Felicity hat zwei Gegenstände bekommen, die sie sehr beschäftigen.
Allein, diese Hoffnung stirbt.
Hatte ich als Leserin zunächst angenommen, dass die Botschaft des Buches vielleicht am Ende lauten sollte, dass das Gewicht eines Menschen egal ist oder (abgeschwächt) innere Werte mehr zählen, so wurde das im Verlaufe des Buches immer unwahrscheinlicher.
DIESER Erzählstimme Marke Bodyshaming hätte ich rein gar nichts mehr in dieser Richtung geglaubt. So wird eine Nebenfigur (die sich die Autorin nebenbei bemerkt einfach hätte sparen können, denn dieser Handlungsstrang ist rein gar nicht relevant für die Handlung) wiefolgt beschrieben: "Mrs Usage war ein Monstrum von einer Frau, ein wahrer Fleischberg, bei dessen Anblick man sich unwillkürlich fragte, wie viel ein Mensch in sich hineinstopfen musste, um so auszusehen." (S. 67)
Lasst es euch mal auf der Zunge zergehen: Da liest ein Kind nicht nur, dass die stämmige Protagonistin ständig ausgegrenzt wird, dass Lehrpersonen (die ja einen gewissen Respekt hervorrufen und vermutlich als glaubwürdige Personen gelesen werden) sie auf zusätzliches Gewicht reduzieren dürfen und dass andere Menschen sich offenbar beim Anblick von fülligeren Personen regelrecht ekeln müssen - NEIN, das Kind wird all dies auf sich und sein eigenes Körpergefühl beziehen!
Eine Nebenfigur, Henry, wird ebenfalls als stämmig beschrieben, und ist im Folgenden immer nur "der dicke kleine Junge". Die beiden Ausgegrenzten finden sich als Zwangsgemeinschaft zusammen und von einer richtigen Freundschaft, wie sie der Klappentext verspricht, kann hier nicht die Rede sein. Henrys (armes) Elternhaus mit den vielen Menschen wird zum Zufluchtsort für Felicity (worin ich eine weitere Potter-Parallele sehe).
Die Antagonistin manipuliert alle in ihrem Umfeld so, dass nur Felicity bemerkt, was eigentlich vor sich geht. Die "nahen" Erwachsenen verhalten sich lieblos oder blicken nichts.
Ansonsten gibt es immer wieder verschiedene Erzählstränge, die zum Teil völlig unvermittelt auftauchen, oder auch gänzlich überflüssig sind. Eine richtige Verbundenheit zu den Figuren kam bei mir nicht auf.
Achja, und dann werden innerhalb von zwei Sätzen drei Menschen in eine enge Freundschaft verwandelt. Yay. Weil die Autorin es aufgeschrieben hat, glaube ich es. Das mache ich nämlich immer so.
Halten wir fest: Eine mystische Gestalt kommt ins Dorf, was dem Lesenden sofort auf dem Silbertablett präsentiert wird, und die Protagonistin blickt es im Grunde erst ganz am Ende.
Ach, und noch ein Schmankerl: Sobald Felicity sich "hübsche" Kleidung anzieht, wird ihre Schultasche nicht mehr ausgekippt. Dadurch, dass sie ein junger Mann im Auto abholt, wächst ihr sozialer Status und sie bekommt "Hochachtung" entgegengebracht.
Hallo?! Was zum Henker soll denn an dieser Stelle vermittelt werden?! Vorzeitige Sexualisierung? Das Bild, dass man ohne Verehrer aber nichts wert sei?
Als wäre all das, vor allem das permanente Bodyshaming, nicht schon schlimm genug und gepaart mit dem sehr durchsichtigen Handlungsstrang auch wirklich Grund genug, das Buch einfach wegzulegen - haltet euch fest: Es kommt wirklich noch schlimmer!
Dieses Buch vermittelt dem Lesenden: Neugeborene oder Babies allgemein seien unverwundbar!
Das ist jetzt ein richtig fetter Spoiler, aber ich finde das Thema zu wichtig, um diesen Spoiler zu unterschlagen!
Zusammengefasst: Wir wissen als Lesende schon seit Beginn des Buches, dass die Herrin des Windes die dritte Tochter einer Familie holen kommt. Wir wissen ebenfalls, dass die Mutter von Felicity schwanger ist. Wir wissen also, dass da Gefahr droht.
Dann wird das Baby geboren - natürlich mit der Herrin zusammen im Kreissaal, während der Vater nicht da ist. Kurz darauf marschiert die Herrin mitsamt der Neugeborenen zum Schiff, um sich wieder vom Acker zu machen. Felicity sieht sie, will die Entführung verhindern (echt toll, dass du angeblich das Buch auswendig kannst, aber DAS nicht hast kommen sehen), und folgt der Herrin aufs Boot.
Blabla, Showdown, Kampf - DANN: Eine Explosion! Hier muss ich doch mal zitieren, um euch das Ausmaß klarzumachen. Also: Felicity hat das neugeborene Baby (jetzt maximal zwei Stunden alt) auf dem Arm.
"Dann zerriss eine ungeheure Explosion die Luft. Die Wucht der Druckwelle, die übers Deck fegte, warf alles um, was ihr im Weg stand. Felicity wurde auf den Boden geschleudert, Henry warf sich über sie und das Baby, um die beiden zu schützen. Das Schiff stampfte und krängte heftig. Alles, was nicht festgezurrt war, flog oder rollte über Bord. Die Spieren in der Takelage knallten gegeneinander, Holzsplitter regneten herab. Felicity umklammerte das Baby und Henry mit geschlossenen Augen." (S.297)
Seht ihr es vor euch? Nochmal in Zeitlupe. Das Baby - unterstellen wir ihm, es sei friedlich - ist bei seiner Schwester auf dem Arm. Dann bekommt es eine Druckwelle in voller Kraft ab, da seine Schwester ja auf den Rücken geschleudert wird. Schleudertrauma: Baby tot.
Das Baby knallt im Arm seiner Schwester auf den Rücken, vermutlich hält die Größere vor lauter Schreck richtig fest und drückt zu. Schleudetrauma: Baby zweimal tot.
Henry - ihr erinnert euch: der "kleine Dicke" - wirft sich (WIRFT sich) auf das Baby und Felicity. Alle Knochen Matsch: Baby das dritte Mal tot.
In diesem Buch aber überlebt das Baby völlig unversehrt!
Wir haben ernsthaft ein erzwungenes Friede-Freude-Eierkuchen-Ende, das an keiner Stelle wirklich glaubwürdig ist!
Versteht ihr jetzt, warum ich sage: "Dies ist kein Kinderbuch"? Ein Kinderbuch vermittelt ein positives Lebensgefühl, stärkt das Selbstbewusstsein von Kindern und nutzt den Glauben an Magie, um etwas Positives zu erschaffen oder angenehmes Gruseln zu erreichen. Hier habe ich mich nur vor der Erzählstimme und den willkürlichen Sprüngen zwischen den durchsichtigen Handlungssträngen gegruselt.